Joanne Bell: I love life, I’m going to live mine to the last second

Zu fett, zu schwarz, zu alt, zu dies und das, du kannst nur nach Deutschland gehen, wo sie dich für Opern engagieren würden, unkten amerikanische Verwandte und Bekannte, als sie populär singen wollte. Weit gefehlt. Sie legte und legt noch mit über 80 eine über 50-jährige Karriere hin, die so ziemlich alle Sparten des Singens umfasst und in aller Welt begeistert gefeiert wurde und wird. Tausende Hamburger Fans kennen sie als das markanteste Gesicht unter mehr als 30 in verschiedenen Schattierungen von rotgekleideten Sängern und Sängerinnen, die den Heaven-Can-Wait-Chor* des mehrfach prämierten St.-Pauli-Theaters* bilden. Joanne Bell, die 35 Jahre mit diesem Theater Tür an Tür mit Deutschlands wohl bekanntester Polizeistation, der Davidwache auf der Reeperbahn, zu tun gehabt hat.

Joanne vereint ein ganzes Bündel von Talenten als Künstlerin, Komponistin, Texterin, Regisseurin, Produzentin und Darstellerin in Produktionen, die das Publikum auf der ganzen Welt beeindruckt und berührt haben. Mit einer mächtigen Kontra-Altstimme, welches sie ein Geschenk Gottes nennt, ist sie ein Kategorie übergreifendes Phänomen, eine unglaublich wandelbare Vokalkünstlerin mit einem höchst umfangreichen Repertoire, das europäische Klassik (Oper, Oratorien, Lieder und Chansons) und amerikanische Standards (Spirituals, Gospel, Musicals, Blues und Jazz) ebenso umfasst wie zeitgenössische und avantgardistische Kompositionen.

Wie kam sie ins St. Pauli Theater? Joanne sitzt arbeitslos zu Hause, auf sie bedrückenden Miet- und Stromschulden, es geht ihr so dreckig wie selten zuvor. Das Telefon klingelt: Eine Dame ruft vom St Pauli Theater an, der Besitzer Thomas Collien wolle sie wegen eines neuen Projektes sprechen. Joanne kennt Collien. Sie hat auf seiner Hochzeit und am 30. Geburtstag seiner Frau gesungen. Und viele Jahre zuvor hat sie für seinen Vater Kurt dessen Lieblingsmusical „Aint Misbehavin’“, sowie ein anderes, „Sweet Charity" inszeniert und darin mitgespielt. Die Dame fragt, wann Joanne zum Gespräch kommen könne. „Jetzt!“, schreit Joanne stumm in sich hinein, will sich aber ihre Not nicht anmerken lassen. Collien möge eine ihm passende Zeit für das Treffen nennen. Sie schaut im Internet nach, was das wohl für ein Projekt sein mag und sagt sich, der wird mich doch nicht als Chorsängerin haben wollen, wahrscheinlich um den Chor zu leiten, wozu ich null Bock hab. Inneres Stimmchen: Klappe! Hör erstmal, was er dir sagen will, du musst noch nichts entscheiden. „Er hat im Katalog geschaut nach Jemanden, der 70 Jahre alt ist und singen kann. Er fand mich, ich hatte nichts damit zu tun“.

Wir müssen noch über Geld reden, sagt sie ihm. Er macht ein Angebot. Die Frau, die die Finanzen des Theaters regelt, interveniert und sagt: Du musst ihr mehr als das geben. Joanne bekommt für jede Probe und jeden Auftritt Gage, nur Chorleiter Jan-Christof Scheibe und eine Band werden auch bezahlt. „Also musste ich die Glaubenskarte ziehen und klarkriegen, dass mir hier das Universum eine Chance bietet, mal wieder was anderes zu tun. Universum, Gott oder göttlicher Geist, was immer du es nennen willst, hat das immer wieder von mir verlangt. Kabumm, wieder was Neues, ich muss mal wieder auf Wasser wandeln“. Collien, Scheibe und Joanne treffen sich. Sie und Scheibe kannten einander nicht. „Sobald ich Thomas Collien sah, grüßte ich ihn wie ich’s immer tat. Hi Baby, wie geht es dir. Geht’s gut, wie geht’s deiner Familie und so und deinem Kind? Ich glaube Jan-Christof war geschockt“. Dann ging’s auf die Bühne und sie sang vor, denn Collien hätte keine Allüren geduldet. Scheibe und sie einigen sich darauf, dass sie ein ganz normales Mitglied des Ensembles sein soll, nicht immer in vorderster Reihe zu stehen, nicht immer die Hauptdarstellerin zu sein. Daran muss sie sich erst gewöhnen, denn das war sonst immer ihr Auftritt.

Was gibt ihr der Chor? Künstlerisch befriedigt er sie. Sie bekommt viel Zuneigung von diesen 37 Leuten. Alle wollen ihr nah sein, sie ist sehr offen und herzlich und fühlt sich sehr gemocht.

Sie und ich sind uns einig: Scheibe, so wie wir ihn fast alle fast immer nennen, ist ein Genie. Er hat zum Bespiel Lieder, die sie anfangs nicht mochte, mit Überzeugung zu ihren Favoriten gemacht. „Er hat auch gelernt, über seinen Schatten zu springen“. Wo zwei so hervorragende Multitalente wie Joanne und Scheibe miteinander arbeiten müssen, sind Meinungsverschiedenheiten unausweichlich. Die beiden lösen sie geräuschlos, kameradschaftlich und chordienlich.