15. September 2019

Ein Velum wirft Fragen auf

Als Pastor Wippermann neulich ein Abendmahlstuch (Velum), das er gerade aus der Waschmaschine geholt hatte, genauer ansah, fiel ihm ein Muster in dem Damastgewebe auf. Neben eingewebten Sternen und Umrandungen war zu lesen:

„Staatl. Wohlfahrtsanstalten 1937“

Was sind staatliche Wohlfahrtsanstalten? Und auf welchen Wegen gelangte dieses Tuch aus staatlichem Besitz in unsere Erlöserkirche?

Bei der Recherche im Internet kam ich sehr schnell auf die Website von „Pflegen & Wohnen“

https://www.pflegenundwohnen.de/unternehmen/historie

Hier wurde ausgeführt, dass die staatlichen Versorgungsheime der Stadt ab 1929 zu staatlichen Wohlfahrtsanstalten umbenannt wurden und der Sozialbehörde (vorher Wohlfahrtsamt) unterstanden. 1991 wurden dann die städtischen Alters- und Pflegeheime in den neuen Landesbetrieb „pflegen & wohnen“ überführt.

Dass die Pflege der Alten und Gebrechlichen im Fokus staatlicher Anstrengungen steht, war in Hamburg nicht immer so. Den Stadtvätern des 17. Jahrhunderts war eher daran gelegen, Störendes und Belastendes aus dem Stadtbild zu entfernen. Dazu gehörten neben Herumtreibern und Kleinkriminellen auch die Bettler. Um diese von der Straße zu bringen, wurde ein „Werk- und Zuchthaus“ errichtet, in dem die Insassen zur Arbeit verpflichtet waren.

Die Zwangseinweisung der Randständigen der Gesellschaft war bis zur französischen Revolution allgemein üblich. Erst 1811, als Hamburg für 8 Jahre dem Kaiserreich Napoleons einverleibt worden war, wurde im Sinne einer fortschrittlichen Auffassung der Gesellschaft eine Trennung der zwangseingewiesenen „Züchtlinge“ von den „unverschuldeten Armen“ vorgenommen. In der Folge entstanden später (1902) daraus für Letztere das „Werk- und Armenhaus“ nahe dem weit vor der Stadt gelegen Dorf Farmsen und für Straftäter das „Zuchthaus“ in Fuhlsbüttel. Der Zwangscharakter, der das ursprüngliche Werk- und Zuchthaus geprägt hatte, blieb jedoch auch in Farmsen bis nach dem zweiten Weltkrieg erhalten. Dort, wo heute die Erich-Kästner-Schule ist, habe ich als Kind von der U-Bahn aus die Frauen in blauen Kitteln gesehen, die unter Aufsicht Feldarbeit leisten mussten. Und auch die massive Umzäunung des Geländes war 1970 noch vorhanden. Heute haben wir eine andere Vorstellung vom Leben in einer „Wohlfahrtsanstalt“.

Da der Gottesdienst ein selbstverständliches Angebot war, waren immer auch Pastoren der zuständigen Kirchengemeinde (früher Rahlstedt, heute Farmsen-Berne) vor Ort, die das Abendmahl spendeten. Es ist rührend zu sehen, wie unser „Velum“, das wohl aus dem Bestand der Damast-Servietten des Versorgungsheims stammte, durch eine Stickerei für den besonderen Zweck umgewidmet wurde.

Jürgen Wulf