Wem gehört der Schnee?

18. September 2022

 - Copyright: Corinna Claussen

„Wem gehört der Schnee?“, so heißt das wunderbare Bilderbuch von Antonie Schneider und Pei-Yu Chang, das auf lebendige Weise die „Ringparabel“ aus Gotthold Ephraim Lessings Werk „Nathan der Weise“ für Kinder lebendig werden lässt. Und kluge Geschichten für Kinder lassen auch mich als Erwachsene vieles besser verstehen. 

In der Ringparabel geht es um einen Weg der Toleranz im Miteinander der drei Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. Sie handelt davon was es bedeutet achtsam und respektvoll miteinander umzugehen in all´ der Unterschiedlichkeit, die uns Menschen ausmacht. Das ist die Grundlage für Frieden. 

Das spüren wir in unserem Leben deutlich. Und dazu gehört in diesen Monaten besonders der Krieg in der Ukraine, der längst bei uns angekommen ist: nicht „nur“ in den erschreckenden und berührenden Bildern der Nachrichten, sondern auch mit den Menschen, die in unserer Nachbarschaft wohnen. Wir sind Teil einer bunten und vielschichtigen Gesellschaft, zu der Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer, Kulturen und Religionen gehören. 

Wem also gehört die Wahrheit? Wem gehört das Land? Wem gehört der Schnee?  

Die Geschichte spielt in Jerusalem und in Jerusalem schneit es selten. Schnee ist kostbar. Die Kinder Rafi, Mira und Samir – sie stehen für das Judentum, das Christentum und den Islam – streiten sich heftig über diese Frage. Zuerst versuchen sie den kostbaren Schnee unter sich aufzuteilen, ziehen Grenzen und bewachen ihre Schneehaufen. Aber der Schnee schmilzt. Schließlich fragen sie beim Rabbi, Priester und Imam um Rat. Doch als sie bei ihren jeweiligen Gelehrten ankommen ist der mitgenommene Schnee längst wieder geschmolzen. 

„„Der Schnee hat ein Geheimnis“, sagt der Rabbi. Der Imam sagt: „Ein Geheimnis wie Gott! Er ist da, er lässt sich nicht festhalten.“ „Wenn man versucht, das Geheimnis zu beweisen, verliert man es“, sagt der Priester.“ „Wir hätten uns freuen sollen solange er da war“, denken die Kinder und kehren nachdenklich in ihre Häuser zurück.“ Doch sie bekommen noch einmal eine unerwartete Chance. Plötzlich fängt es wieder an zu schneien. Alle Menschen – egal welcher Religion oder aus welchem Herkunftsland sie kommen – rennen nach draußen und staunen: Rabbi, Imam, Priester, Soldaten, Pilger, Touristen (…), alle. Sie schauen zum Himmel und staunen. 

„Es ist so still. Es gibt genug Schnee für alle.“ 

Mit wenigen Worten gelingt es in diesem Buch diese so schwierige Frage „Wem gehört der Schnee?“ auf den Punkt zu bringen: Es ist genug für alle da. Sich an ihm freuen können die Menschen da, wo sie ihn weder aufteilen, noch bewachen oder für sich allein beanspruchen. Ja, so einfach kann es sein. 

Bis heute hat die Ringparabel nichts von ihrer Aktualität verloren und lädt uns ein, sie auch in unserem eigenen Leben immer wieder neu umzusetzen.  

Schauen auch wir zum Himmel und staunen: Es gibt genug für alle (… ob wir an Schnee denken oder jetzt im Sommer andere Bilder vor Augen haben). 

Mit herzlichen Grüßen für das Pfarrteam 

Pastorin Corinna Claussen